Das Stichwort Zentralperspektive erinnert mich an Computerspielereien aus dem MS-DOS-Zeitalter – Programme zur Zentralprojektion zu schreiben und damit „realistische“ 3D-Bilder zu erzeugen. Sehr realistisch waren die Bilder nicht, sie sind eher von sentimentalem Wert. Anlass war eine Studienfahrt nach Florenz. Meine Schüler und Schülerinnen mussten zur Vorbereitung Referate über die Bedeutung und die Sehenswürdigkeiten der Stadt ausarbeiten und vortragen – unter anderem über Masaccios Trinitätsfresko in der Kirche Santa Maria Novella. Genauer gesagt, über die zentralperspektivische Darstellung in diesem Gemälde. Masaccios Gnadenstuhl-Fresko ist ja bekanntlich das erste Bild, in dem die Regeln der Zentralprojektion korrekt angewandt wurden. Ich fand das Thema interessant. Hier mein Beitrag dazu:
Im Informatikunterricht der Schule war gerade das Programmieren von Grafiken in Mode. Ich lag also damals voll im Trend mit meinem Versuch, Masaccios Darstellung mit Turbo-Pascal und pixeliger VGA-Grafik nachzuempfinden. Zur Vereinfachung setzte ich den fiktiven Kapellenraum des Bildes aus Quadern zusammen, mehr wollte ich mir an mathematischem Aufwand nicht antun. Die Eckpunkte der Quader wurden als Daten im Programm gespeichert und von diesem in die Bildebene umgerechnet, dann die Bildpunkte der Quaderecken durch Geraden miteinander verbunden.
Das Programm war einfach, aber immerhin in der Lage, eine damals diskutierte Frage zu beantworten. Sie betraf den Fluchtpunkt der Darstellung. Der Fluchtpunkt des tatsächlichen Bildes liegt, wie man anhand der sich verjüngenden Kassettenquadrate an der Decke nachvollziehen kann, am Fuße der Stufe, auf der Maria und Johannes (und das Kreuz Jesu ) stehen. Die Frage, die in dem Referat beantwortet werden sollte, war: Würde sich die Aussage des Bildes verändern, wenn dieser Fluchtpunkt höher bzw. tiefer läge? Für den Rechner war es kein Problem, (Quader-) Zeichnungen für drei verschiedene Augpunkt- bzw. Fluchtpunkthöhen zu produzieren. Ich habe sie frei Hand zu (groben) Skizzen des Kapellenraums umgezeichnet und koloriert, siehe oben. Die durchgehende horizontale Gerade gibt die Höhe des Aug- bzw. Fluchtpunkts an.
Das reale Fresko entspricht der mittleren der drei Computerskizzen (Skizze 2). In den beiden anderen Computerzeichnungen würde der Betrachter entweder von unten (Skizze 1) oder von oben (Skizze 3) in die Kapelle blicken. Im ersten Fall fiele sein Blick direkt auf den Leichnam des Sarkophags, andernfalls auf den Kapellenboden.
Man müsste nun in die kunsthistorische und theologische Diskussion über dieses Bild eintreten. Das überlassen wir Fachleuten. Als Laie kann man aber nachvollziehen, dass weder die Fokussierung auf den Sarkophag noch der Blick auf den nichtssagenden Boden der Kapelle die theologische Aussage des Bildes unterstützen. Im Original (Skizze 2) fällt der Blick des Betrachters zwar zunächst auf die Stufen der Kapelle, wird aber dann durch die Stifterfiguren und die Gesten von Maria und Johannes auf die zentrale Darstellung von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist (der Taube) gelenkt. Danach wird er von dem Rundbogen über dem Eingang der Kapelle aufgefangen. Das Bogengewölbe ruht auf Säulen mit ionischen Kapitelen, die von kannelierten Pilastern flankiert werden. Das sind Stilelemente eines römischen Triumpfbogens, also Zeichen von Ruhm und Ehre. Masaccios Fresko kann man damit auffassen als Doxologie, gestaltet mit den Mitteln der Zentralperspektive. Es ist wohl zu Recht ein Meilenstein der Kunstgeschichte.
Ein Referat, wie von den Schülern/Schülerinnen verlangt, habe ich nicht gehalten. Es wäre auch nicht sehr überzeugend gewesen. Denn die Ergebnisse, die ich dem Computer damals entlockte, waren ja eher bescheiden.